„Das kennt man nur aus dem Fernsehen“
Echterdingen: Im Philipp-Matthäus-Hahn-Gemeindehaus berichtet ein
Roma von den Verhältnissen in seiner Heimat
Von Nicolas Walter
Ich bin von Müllcontainer zu Müllcontainer gegangen und habe nach
Gegenständen gesucht, die ich später auf dem Markt verkauft habe“,
sagt Kemo Ajvaz. Die meisten der rund 50 Besucher des Pharos-Informationsabends
am Montag haben die bewegenden Ausführungen von Ajvaz berührt. Der
aus Sarajevo stammende Bosnier und Roma arbeitet seit April für die
Hilfsorganisation und ist so zu einem Musterbeispiel für die
erfolgreiche Arbeit des gemeinnützigen Vereins geworden, welcher
durch private Spenden humanitäre Projekte finanziert.
Anfang des Jahres lernten sich die aus Echterdingen stammende Ingrid
Halbritter, die Ansprechpartnerin für die Projekte des Vereins, und
Ajvaz in Bosnien kennen. Wegen seiner Arbeitslosigkeit lebte er
zusammen mit seiner damals schwangeren mazedonischen Lebensgefährtin
Sinaver und der eineinhalbjährigen Tochter Medina am Existenzminium.
Jeder Bewerbungsversuch wurde von den Arbeitgebern zurückgewiesen.
Roma gelten in Bosnien als nicht vertrauenswürdig, unzuverlässig und
sogar als Risiko.
Doch das größte Problem stand erst noch bevor. Tochter Medina wurde
in Mazedonien geboren und Ajvaz hatte sich bei der Geburt aus Angst
vor zu hohen Krankenkassenbeiträgen nicht als Vater in die
Geburtsurkunde eintragen lassen. Das kleine Mädchen hatte somit nur
die mazedonische Staatsangehörigkeit und lebte illegal in Bosnien,
was es unmöglich machte, sie mit einer Krankenversicherung
auszustatten. Doch auch Sinaver war illegal im Land und wusste nicht
genau, in welchem Schwangerschaftsmonat sie ist, da sie weder
schreiben noch eine Uhr lesen konnte. Durch Kontakte von Ingrid
Halbritter in die Region konnten in einem zeitlich aufwendigen
Prozess schließlich alle nötigen Unterlagen besorgt werden, die
sowohl eine Heirat des Paares als auch den Abschluss einer
Krankenversicherung für die Familie bedeutete.
Ajvaz, der seinen Vortrag in bemerkenswert gutem Deutsch hielt,
lernte die Sprache auf eigene Initiative hin. „Ich habe Deutsch
immer im Fernsehen gehört und fand die Schnelligkeit dabei immer so
toll“, erklärt der Bosnier. Mittlerweile arbeitet Kemo Ajvaz selbst
für Pharos. Der Verein kämpft gegen menschliches Leid und Armut und
betreibt Bildungs- und Friedensarbeit in dem Balkanstaat. „Wir
wollen uns in den Regionen, in denen wir tätig sind, auf lange Sicht
überflüssig machen“, sagt Halbritter.
Während Schätzungen zufolge in Bosnien-Herzegowina etwa 60 000 Roma
leben, sind es in ganz Deutschland nur etwa 10 000 mehr. Da in
Europa keine Volkszugehörigkeit ermittelt werden darf, basieren
diese Zahlen eben nur auf Schätzungen. Viele der in Bosnien lebenden
Roma wohnen in einer Art Slum. „Das kennt man sonst nur aus dem
Fernsehen“, sagt Ingrid Halbritter.
Artikel vom 25.10.2012 © Stuttgarter Zeitung - Hier auf den Fildern
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